„Mini“-Projekt belegt den dritten Platz beim Förderpreis „Helfende Hand“

Pressemitteilung der EKiR vom 18.12.2023:

Das von der Stiftung Notfallseelsorge unterstützte Projekt „Mini“ (Mittelfristige Notfallnachsorge für Kinder und ihre Familien) hat beim Förderpreis „Helfende Hand 2022“ des Bundesinnenministeriums den dritten Platz in der Kategorie „Innovative Projekte“  belegt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser überreichte Professor Harald Karutz, Iris Stratmann und Ute Borghorst einen Scheck in Höhe von 4000 Euro, eine Urkunde und eine Trophäe aus Bronze. Auch beim Publikumspreis, für den bundesweit abgestimmt werden konnte, belegte das „Mini“-Projekt den dritten Platz. Insgesamt hatten sich 250 Projekte aus Deutschland für den Preis beworben. 

Im Interview, das in der aktuellen Ausgabe des Elternmagazins Zehn14 erschienen ist, berichten die Notfallseelsorger Iris Stratmann und Harald Karutz, wie sie Familien mit dem Projekt „Mini“ unterstützen.

Wie ist das „Mini“-Projekt entstanden?
Harald Karutz: Zwei Entwicklungsstränge haben zum „Mini“-Projekt geführt: Die Erfahrungen aus der Notfallseelsorge, mit der wir vor Ort in den ersten Stunden psychische Erste Hilfe leisten. Als Notfallseelsorger denkt man bei der Verabschiedung oft: Eigentlich müsste bei dieser Familie noch viel mehr Hilfe geleistet werden. Hinzu kommen wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Rahmen eines Forschungsprojekts im Auftrag des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe habe ich Familien interviewt, die von Notfällen betroffen waren. Dabei wurde deutlich: Die Akutversorgung durch die Notfallseelsorge hat eigentlich immer sehr gut funktioniert. Probleme traten dann aber nach einigen Wochen auf. Betroffene haben in dieser Phase oftmals Schwierigkeiten, Zugang zu weiterführenden Hilfsangeboten wie Beratungsstellen, Trauergruppen, einer Traumatherapie oder auch juristische Unterstützung zu finden. Es gibt also eine Lücke in der mittelfristigen Versorgung. Mit „Mini“ möchten wir diese so schnell wie möglich schließen.

Wie unterstützen Sie die Betroffenen?
Iris Stratmann: Wir machen die Betroffenen während des Notfallseelsorgeeinsatzes auf das Angebot aufmerksam und fragen, ob sie Interesse daran haben. Falls ja, sprechen wir die Familien nach fünf bis sieben Tagen an, wenn sich der erste Trubel gelegt hat. Dann sortieren wir die Situation: Was brauchen die Kinder? Was brauchen die Eltern? Unsere Erfahrung zeigt, dass viele Familien in der Zeit unmittelbar nach dem Unglück nicht handlungsfähig sind. Sie finden teils Hilfsangebote nicht, die „um die Ecke“ sind.  Zudem gibt es einfach zu wenige Therapieplätze, die Wartezeiten sind lang. Deshalb helfen wir bei der Terminfindung, suchen nach Ansprechpersonen und Hilfsangeboten, die gut erreichbar sind. Das ist vor allem für Kinder und Jugendliche wichtig.

Gehen Kinder denn anders mit Schicksalsschlägen um als Erwachsene?
Karutz: Für Kinder ist das generell schwieriger. Bei ihnen ist das Unverständnis viel ausgeprägter. Erwachsene wissen zumindest, dass es schwere Krankheiten und Katastrophen geben kann. Für Kinder ist das in der Regel neu, häufig werden sie zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert. Deshalb sollte auf Kinder besonders geachtet werden. Oft hilft es schon, ihnen Dinge altersgerecht zu erklären. Dass Albträume oder Unruhezustände zum Beispiel ganz normale, meist vorübergehende Belastungsreaktionen sind. Und wie sie damit umgehen können. Eine solche Aufklärung nennt man in der Fachsprache Psychoedukation.
Stratmann: Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass Kinder vor der Wahrheit „geschützt“ werden sollen. Oft ist dies aber keine Hilfe. Dann heißt es etwa: „Der Opa ist jetzt im Himmel oder auf eine Reise gegangen.“ Häufig kommt schnell die Gegenfrage: „Wann kommt Opa wieder?“ Auch wenn es schwer ist, sollte mit Kindern immer ehrlich gesprochen werden: „Der Opa ist gestorben, sein Herz schlägt nicht mehr.“ Dadurch helfen wir Kindern, die Situation verstehen zu können.

Wie unterstützen Sie die Eltern dabei?
Stratmann: Wir sprechen mit ihnen über mögliche Belastungsreaktionen. Dass es normal ist, wenn ein Kind auf einmal rebellisch ist oder nicht mehr schlafen kann. Damit möchten wir ihnen Sicherheit geben. Oft beruhigt das die Eltern auch. Es ist ungemein wichtig, das Trauerverhalten von Kindern realistisch einschätzen zu können.
Karutz: Ein Beispiel ist das Phänomen der sogenannten „Pfützentrauer“: Manche Kinder sind in einem Moment zu Tode betrübt, und nur wenige Augenblicke später albern sie herum. Das mag pietätlos oder skurril erscheinen. Als Elternteil kann man sich da durchaus fragen: „Ist das noch normal?“ Das ist es! Dieses Trauerverhalten ist eine entwicklungspsychologisch bedingte Besonderheit bei Kindern. Trauer kommt kurzzeitig zum Ausdruck, es werden vielleicht Fragen gestellt und dann greift ein Schutzmechanismus – immer dann, wenn es für ein Kind zu viel werden würde. Kinder trauern einfach anders als Erwachsene.
Stratmann: Wir werden regelmäßig gefragt, ob Kinder mit zur Beerdigung oder zum Sarg-Aussuchen gehen sollen. Wir haben zum Beispiel einen Vater begleitet, dessen Frau bei einem Unfall verstorben ist – und wir haben ihn ermutigt, die zwölfjährige Tochter mit zum Bestatter zu nehmen. Am Ende hat sie die Urne und Blumen für ihre Mutter ausgesucht. Kinder zu fragen, was sie möchten, ist der richtige Weg. Je mehr sie ernst genommen und einbezogen werden, desto besser können sie mit dem Geschehenen umgehen. Allerdings gibt es kein pauschales „Richtig“ oder „Falsch“. Und natürlich bleibt es schwer, mit einem Unglück umzugehen. Erwachsene sollten sich daher nicht verstecken, wenn sie verzweifelt sind oder mal die Tränen laufen. Das ist vollkommen in Ordnung!

Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?
Karutz: Kindern sollte vermittelt werden: Wenn ihr Fragen und Sorgen habt, dürft ihr jederzeit zu uns kommen. Werden bestimmte Themen tabuisiert, wird die Bewältigung des Geschehenen immer schwieriger. Kinder spüren das und behalten ihre Überlegungen dann lieber für sich. Das kann ganz problematisch sein.  Deshalb ist Offenheit wichtig. Zugleich sollte jedes Familienmitglied auf seine Art trauern dürfen. Der ältere Sohn möchte vielleicht mit einem Freund Joggen oder zum Training gehen. Die Tochter schreibt ein Tagebuch. Wenn ein Kind am Tag nach einem Todesfall wieder in die Schule möchte, warum nicht? Das ist auch eine Bewältigungsstrategie: die Dinge im Alltag aufrechterhalten, die einem vorher Halt gegeben haben.

Info: Das „Mini“-Projekt

Iris Stratmann ist Koordinatorin der Notfallseelsorge in Oberhausen und Essen. Harald Karutz ist Professor für Psychosoziales Krisenmanagement an der Medical School Hamburg und Notfallseelsorger in seiner Heimatstadt Mülheim an der Ruhr. Zusammen haben sie das Projekt „Mini“ (Mittelfristige Notfallnachsorge für Kinder und ihre Familien) ins Leben gerufen. Unterstützt werden die beiden von zwei Kolleginnen aus der Notfallseelsorge. „Mini“ wird derzeit in den Städten Mülheim, Essen und Oberhausen angeboten.

Autor: Andreas Attinger, Kirchenkreis An der Ruhr